Betrachtungen einer Mutter

Viele Leute sprechen bei Negativerlebnissen vom "schwärzesten Tag in der Weltgeschichte". Wann meiner war, weiß ich genau. Ich werde das Datum nie vergessen, es ist wie eingemeißelt in mein Gehirn: es war der 22. Dezember 1999. Zwei Tage vor Weihnachten, voll der Hektik und vor allem voll der Vorfreude auf das Fest.

Dann am 23. Dezember frühmorgens ein Anruf mit der Frage: "Haben sie Dich schon angerufen?" Ich hätte von der Gendarmerie oder Polizei verständigt werden sollen, dass mein 23jähriger Sohn Jochen einen Unfall hatte. Ich wusste von nichts, wurde weder von jemandem verständigt oder sonstwas. Alex, seine Exfreundin, hatte über die Firma, bei der Jochen beschäftigt war, davon erfahren.

Was weiter folgte, waren Telefonate, um einmal in Erfahrung zu bringen, was eigentlich passiert ist und wo sich Jochen denn nun befindet. Im LKH Leoben auf der Intensivstation wurde ich fündig. Die wenigen Auskünfte, die mir ein Arzt am Telefon mitteilen durfte, brachten mich zur Verzweiflung. Keine äußeren Verletzungen, doch schwere innere Kopfverletzungen. Ein Schädel-Hirn-Trauma mit Stammhirnbluten, eine Diagnose, die mir im Moment zwar noch nicht viel sagte, erst in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten mein Verstehen erlangten. Und doch bin ich mir bis heute (16 Monate nach dem Unfall) noch immer nicht ganz im Klaren, was da passiert ist und wie die Folgen genau aussehen.

Jochen lag da im luftgepolsterten Intensivbett, wie wenn er schlafen würde, wie wenn er nicht einmal die kleinste Verletzung hätte! Und doch schlief er, wachte auch nicht auf, als die Medikamente ganz langsam abgesetzt wurden.

Auf unsere vielen Fragen wurden zwar viele Antworten gegeben, doch unser Verständnis reichte nicht aus um die Tragweite zu verstehen. Zwar wurden wir darüber aufgeklärt, dass Jochen eine schwere Hirnverletzung hat, doch wenn wir ihn uns so ansahen, konnten wir dem keinen Glauben schenken.

Auch als er dann schon die Augen zeitweise offen hatte, wartete ich immer wieder darauf, dass er einmal "BUHH" macht, um mich zu schrecken und mir zu sagen, dass alles wieder in Ordnung sei. Auf diese Meldung warte ich noch heute.

Alle zwei Tage machten Peter, mein Ehemann und ich uns auf den - im Winter sehr beschwerlichen - Weg nach Leoben, eine Fahrtstrecke immerhin ca. 150 Kilometer. Und dann sahen wir ihn wieder da liegen, schön wie der junge Tag, doch nicht ansprechbar. Wir können bis heute nicht sagen, ob er uns sieht, hört oder spürt. Und Gespräche werden so mühsam, wenn der Gesprächspartner nicht antwortet. Wenn man nicht weiss, was ankommt bei ihm. Wir haben ihn gestreichelt, ihm zugeredet, ihm die Neuigkeiten erzählt und wieder gestreichelt. Manchmal kam es uns vor, als wollte er reagieren, die Hand heben, zwinkern. Es kann aber auch sein, dass die Bewegungen aus der Spastik seiner Lähmungen kamen.

Nach einem Monat wurde uns mitgeteilt, dass Jochen verlegt werden sollte, um ihm eine Früh-Reha zukommen zu lassen. Kontakte wurden aufgenommen nach Innsbruck und Wien und schließlich fiel die Entscheidung zugunsten des RZM (Reha-Zentrum Wien-Meidling), das der AUVA (Unfallversicherungsanstalt) gehört. Immerhin ist der Unfall mittlerweile als Arbeitsunfall (Wegunfall) zu 100% anerkannt.

Vom 23. Februar bis zum 10. Oktober wurde er im RZM bestens betreut. Er saß von ca. 10 Uhr morgens bis ca. 16 Uhr im Rollstuhl und hatte einige Therapien. Um 1/2 11 Uhr begann die Ergotherapie mit Frau S., sie mühte sich mit seinen Armen ab, bewegte ihn, gab ihm verschiedene Sachen zum Angreifen. Um 11 Uhr war er bei der Logopädin, Frau A., die seine Gesichtsmuskeln bewegte, besonders halt die beim Mund. Nachmittags von 13.30 - 14.30 Uhr war er mit Herrn B. unterwegs, der ihn entweder durch bewegte oder ihn auf ein so genanntes Stehbrett stellte, um seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen. Dann gab es noch die Altorientalische Musiktherapie, bei der zwei Life-Musiker Melodien spielen, die ganz darauf abgestimmt sind für Neurologische Krankheiten.

In dieser Musiktherapie wurde Jochen von der Psychologin Fr. Dr. A. etwas gefragt und er hat laut und deutlich zweimal mit "JA" geantwortet. Leider hat er dann nichts mehr gesagt. Er brummt nur manchmal, besonders wenn man ihm den Rücken massiert. Aber zeitweise schaut es auch so aus, wie wenn er etwas sagen möchte, er bewegt den Mund.

Wir sehen viele - wenn auch kleine - Fortschritte. Ein Problem für uns ist, dass zwar unsere Familie auf Besuch zu Jochen kommt, doch seine Freunde haben stark nachgelassen. Einzig seine Schulfreundin Cindy (mittlerweile mit ihrem Baby Sarah) und ein Thomas aus den Bundesheertagen kommen manchmal. Aber sonst ..... Vor allem die Mädels haben ausgelassen. Und ich denke, Jochen könnte Ansprache von der Jugend gut gebrauchen. Und der Ausrede, sie können alle nicht damit umgehen, möchte ich dagegenhalten, das konnte ich anfangs auch nicht. Und sogar jetzt fällt es manchmal schwer, die richtigen Worte zu finden, dann sitze ich halt eine Weile nur da und halte seine Hand oder streichle ihn.

Zeitweise habe ich keine Tränen mehr, es ist alles so schwer. Es kann sich niemand vorstellen, wie mir Jochen fehlt. Ich hätte ihm soviel zu sagen, vor allem, wie sehr ich ihn lieb habe. Ich hätte ihn so viel zu fragen. Wie sehr wünsche ich mir die Zeit zurück, als er noch er selbst, der Jochen war, der uns alle zeitweise total nervte. Auch das würde ich nun in Kauf nehmen. Er war schon immer unser Sorgenkind, aber dass die Geschichte so ausgehen würde, hat keiner gedacht.

Im Oktober 2000 wurde Jochen in das Pflegeheim Wien Lainz (GZW) überstellt. Dort gehen die Sorgen weiter. Mein größter Wunsch wäre, Jochen endlich bei uns zu Hause zu haben. Im Familienverbund, so denke ich, wäre es auch für ihn leichter, in der halbwegs gewohnten Umgebung. Und vielleicht würde auch ich dann wieder ein Stückchen zu mir selbst finden.